oder warum ein eingeschlagener Zaunpfahl alles verändert
Eine leere Bühne kann einen immensen Druck auf Impro-Spielerinnen und Spieler ausüben. Wo und wie soll ich anfangen? Welche meiner Impulse sind gut und werden mich zu guten Szenen führen?
Natürlich haben wir den Wunsch, erfolgreich zu sein, etwas Gutes zu erschaffen. Das Problem ist, dass der Fokus auf das Produkt, einen „guten“ Einfall zu haben, eine „gute“ Szene zu spielen, uns kreativ lähmt (und uns darüber hinaus von wirklicher Improvisation abhält.) Wir zensieren unsere Ideen wieder und wieder, bis wir sie absolut schrecklich finden. „It takes 15 seconds to hate your offer.“ hab ich bei Joe Bill in Chicago gelernt. Daher müssen wir schneller sein. Um mich selbst in einen schöpferischen und inspirierten Zustand zu versetzen, darf ich die Dinge nicht zu wichtig nehmen. Ich muss mich selbst in einen offenen Modus versetzen, in dem das Endergebnis (erstmal) keine Rolle spielt.
Das Bild, das ich nutzen möchte, ist eine riesige Wiese, aus der ich irgendwo eine Koppel mit einem Zaun abgrenzen möchte. Anfangen muss ich mit einem ersten Pfahl. Wo schlage ich den ein? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. (Es sei denn es gibt äußere Vorgaben, eindeutige Präferenzen oder Hindernisse.) Ist der Druck zu hoch, die perfekte Stelle zu finden, werde ich ihn nie einschlagen.
Wenn ich etwa eine Szene aus dem Nichts starte, dann hab ich ebenso eine Vielzahl von endlosen Möglichkeiten: Die Form, die ich für mich selbst auf irgendeinem Punkt der Bühne wähle: Setze ich mich auf einen Stuhl in der Mitte der Bühne oder lege ich mich an die rechte vordere Bühnenkante? Ich kann pantomimisch agieren, zum Beispiel den Boden fegen, auf dem Stuhl eine Näherin werden, die an einer imaginierten Nähmaschine einen Saum näht oder eine gemimte Zigarette aus meiner Tasche ziehen und rauchen. Wahlweise kann ich mich auch gegen pantomimisches Agieren entscheiden und im Liegen am Bühnenrand der Linie der Maserung des Holzes folgen oder mein Haar richten. Die Möglichkeiten sind endlos und und je größer mein eigener Druck ist, etwas Gutes zu tun, um so entscheidungsunfähiger werde ich. Möglicherweise versuche ich auch, ganz viel gleichzeitig anzubieten, um sicherzustellen, dass man meine finale tolle Idee auch gleich erkennt (und die Kontrolle zu behalten.) In jedem Fall schlägt unsere unbewusste FOMO hier zu: denn mit einer Entscheidung schließe ich all die anderen Möglichkeiten aus. Aus dem Kosmos des Phantastischen wird eine einzige ganz reale Entscheidung, die ich in die Welt bringe. Scary? Jawoll!
Deshalb: Um den Druck des schöpferischen Aktes von mir zu nehmen, um entspannt anfangen zu können, darf ich der Entscheidung nicht zu viel Wichtigkeit beimessen. Sie darf geradezu zufällig sein. Denn die Wahrheit ist, dass der Kosmos des Phantastischen mit seiner Unmenge an Optionen zwar ganz schillernd erscheint, aber nun mal nicht real ist. Und nur eine einzige Szene wird am Schluss entstehen. Im besten Fall entsteht sie aus dem Miteinander und nicht aus der cleveren Planung meines Hinterkopfes. Deshalb: Ich muss einfach irgendwo anfangen und den ersten Pfahl einschlagen. Und die gute Nachricht ist: Es ist erstmal nur ein Pfahl und ich bin noch weit entfernt davon, die gesamte Koppel final abgespannt zu haben oder auch nur mehr zur zukünftigen Koppel wissen zu müssen. Ich brauche noch nicht mal einen Plan. Ich treffe nur eine winzige kleine Entscheidung.
Entscheide ich mich schließlich, ändert sich die Wichtigkeit jedoch plötzlich dramatisch. Auf eine gewisse Weise findet geradezu ein Paradigmenwechsel statt von „zufällig“ hin zu „absolut fundamental“ statt.
Denn nun kann der zweite Zaunpfahl nicht mehr irgendwo eingeschlagen werden. (Zumindest wenn ich mir das Leben nicht unnötig schwer machen will.) Es muss die Möglichkeit geben, beide Pfähle am Ende mit einem Zaun zu verbinden, also folge ich einer Himmelsrichtung und wähle einen zweiten Pfahl. Ähnlich funktioniert das auf der improvisierten Theaterbühne. Jedes von mir mit dieser ersten Entscheidung geschaffene Bild suggeriert eine kleine Welt. Und ab dem Moment, wo diese Entscheidung getroffen ist, muss ich sie wichtig nehmen. Ich muss mich, komme, was da wolle, daran festhalten. Warum? Weil es alles ist, was ich habe. Weil es der Startpunkt unserer Welt ist. Mit dieser Entscheidung werden die Möglichkeiten nun geringer und die bereits getroffenen Entscheidungen gilt es zu ehren.
Hab ich mich zum Beispiel für die liegende Position entschieden, bei der ich mit dem Finger der Maserung des Bodens folge, muss ich dies – eben noch zufällig gewählt – nun wichtig nehmen. Ich gebe dieser Position all mein Vorstellungsvermögen und fühle zum Beispiel, dass ich eine Gefangene in einem kleinen kahlen Raum sein könnte. Rauche ich sitzend eine Zigarette, fühle ich stattdessen beispielsweise, dass ich vor einem Krankenhaus auf einen Freund warte, der gerade untersucht wird. Oder ich fühle, dass ich ein Meeting des Vorstands kurz verlassen habe und auf der Terrasse kurz eine kleine Pause genieße. Auch hier ist die inhaltliche Entscheidung zunächst (fast) unbedeutend. Ich folge meiner Inspiration und bewege mich im Rahmen von mehreren Möglichkeiten, bis der nächste Zaunpfahl eingeschlagen wird.
Zum Beispiel kommt eine Mitspielerin auf die Bühne und ich folge dem Impuls des Vorstandsmeetings und sage: „Ganz schön heftig, diese neue Entlassungswelle, die sie da vorhaben.“ Auch hier darf ich nicht zu viel Druck haben, den richtigen Satz zu sagen oder eine richtige Entscheidung zu fällen. Mit Leichtigkeit entscheide ich mich und dann, im magischen Moment, in dem ich eine Entscheidung in die Welt bringe und den Zaunpfahl tatsächlich einschlage, wird sie alles, was ich habe. Ich muss sie wichtig nehmen und ehren und mich daran festhalten.
Keith Johnstone sagt, dass Storytelling bedeutet, rückwärts in die ungewisse Zukunft zu gehen. Wir schauen zurück auf das, was wir bereits erschaffen haben und treffen aufgrund dessen unsere nächste Entscheidung und unsere nächste.
Viele improvisierten Szenen, die ich sehe (oder auch selbst gespielt habe), scheitern daran, das wir uns „umdrehen“ und nach vorne statt zurück schauen: Wir suchen nach dem Plot, nach der Story. Aber wenn wir nach vorne schauen, sehen wir nicht die bereits eingeschlagenen Pfähle, sondern nur die Weite der Wiese: Wir fühlen ihn wieder, den immensen Druck, irgendwas in der unbegrenzten Vielzahl der Möglichkeiten tun zu müssen und verraten die Entscheidungen, die uns in diesen Moment gebracht haben.
Dabei müssen wir nur den Modus ändern und zurückschauen auf die bisher eingeschlagenen Pfähle.
Nadine Antler, Januar 2025