Der Kampf gegen das Nichts
oder die Schwierigkeit des kreativen Schaffensprozesses

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In Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ kämpft die Hauptfigur Bastian dagegen, dass
sich das Nichts ausbreitet.  Diese Geschichte kann als Allegorie auf unser Wirken als
Improspieler*innen – und allgemein auf alle kreativen Prozesse – verstanden werden.


In Improszenen kämpfen auch wir mit dem Nichts. Ganz zu Beginn gibt es keine Figuren,
keine Umstände, keinen Ort, keine Aktivität, es gibt noch nichts. Das ist unglaublich
angsteinflößend, denn es gibt keine Szene.  Nichtsdestotrotz stehen wir auf der Bühne und
werden von Menschen angeschaut. Unser Hirn reagiert mit Panik: Wir fragen. „Was tust du
da?“ „Woher kennen wir uns nochmal?“ „Wer bist du eigentlich?“ Wir erkennen unser
Gegenüber in der Szene nicht, weil wir dann etwas über sie wissen müssten. Unser Gehirn
sagt uns: „Du weißt nichts.“ Wir entscheiden uns unbewusst dafür, unfähig zu sein, Dinge
nicht zu können und hoffen, sie von unserer Mitspielerin erklärt zu bekommen. Um endlich
irgendetwas etwas zu haben, an dem wir uns festhalten können.


In der „Unendlichen Geschichte“ kann Bastian dem Nichts Einhalt gebieten und die sterbende
Kaiserin retten, indem er ihr einen Namen gibt.  In improvisierten Szenen ist das genauso.
Um eine Welt zu erschaffen, müssen wir sie definieren, sie beim Namen nennen. Wir müssen
Dinge behaupten, nämlich zum Beispiel, dass wir in einer nach Zimtschnecken duftenden
Bäckerei stehen. Dass das Licht durch die großen Fensterscheiben fällt und hinter uns Körbe
voller Brötchen, Brote und süßer Teilchen stehen. Dass vor uns in der Glasauslage belegte
Brötchen liegen und direkt neben uns eine alte Registrierkasse steht. Und dass die
Mitspielerin mit uns hier arbeitet. Nur so kann das Nichts zurückgedrängt, die Szene und
unsere Inspiration gerettet werden.


Sobald wir wissen, was uns umgibt, entsteht um uns eine Welt und wir beginnen, in dieser
Welt zu existieren. Es scheiden sich die Geister in der Welt des improvisierten Theaters, ob es
zuerst eine Tätigkeit oder einen Ort braucht, eine klare Haltung zur Welt, ein starkes
Statement, ob wir unsere ersten Impulse aus dem Gegenüber ziehen. Wichtig ist, dass wir
diese Details „entdecken“ und uns dafür klar entscheiden. Dass wir mit jeder Entscheidung
ein Stück Stein vom großen Felsbrocken abschlagen, um die darin wohnende Skulptur –
unsere Szene – langsam herauszuschälen. Und hier liegt eine weitere Parallele zu Michael
Endes Geschichte. Denn obwohl Bastian den Namen der kindlichen Kaiserin weiß, traut er
sich nicht, diesen auszusprechen, aus Angst er könne für unwürdig befunden werden.
Das Schaffen einer Szene ist ein kreativer Akt. Und wie bei jedem kreativen Akt begleitet uns
der Zweifel. Unser Zensor flüstert uns ein, dass es noch nicht gut genug ist. „Eine Bäckerei,
das ist nicht originell genug.“ „Eine Registrierkasse, wer benutzt so etwas heute überhaupt
noch? Das ist doch unrealistisch.“ „Geruch nach Zimtschnecken – das ist doch eine recycelte
Erinnerung aus deiner Kindheit.“ Und noch ehe wir dazu kommen, die Umstände der Szene
zu definieren, wurden alle unsere Ideen von uns selbst bereits zunichte gemacht und wir
befinden uns wieder im Nichts. 


Doch wie bei allen kreativen Abläufen muss im Schaffensprozess der Fokus zunächst einzig
und allein auf dem Prozess liegen. Wer zu diesem Zeitpunkt über das finale Produkt
nachdenkt, blockiert sich selbst. Keith Johnstone spricht deshalb vom „zufälligen Detail“. Es
geht darum, uns selbst zu entlasten. Jede Entscheidung ist gut genug. Das Wichtigste ist, dass
sie getroffen wird, damit sich das Nichts nicht weiter ausbreiten und eine neue Welt entstehen
kann.

Wenn aber jede Idee gut genug ist, wird das Ganze dann nicht beliebig? Verzichten wir dann
auf Qualität? Zur Antwort auf diese Frage muss man unterscheiden zwischen dem Prozess vor
dem Schaffensprozess, also vor der Entscheidung und dem Prozess nachher. John Cleese
unterscheidet in diesem Video zwischen dem offenen Modus und dem geschlossenen Modus, in dem völlig unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten herrschen. Bis zum Ende des Schöpfungsaktes (hier
z.B. einfach nur der Definition der Bäckerei mit ihren Details) muss eine gewisse humorvolle
Leichtigkeit vorherrschen gepaart mit einem Selbstbewusstsein, das keine Angst vor dem
Scheitern hat. Das Ergebnis darf – und muss – unwichtig sein. Erst nachdem die Entscheidung
gefallen ist, darf ich in den geschlossenen Modus verfallen und ihre Verwertbarkeit
beurteilen. Ich entscheide also in einer improvisierten Szene erst dann, ob ich das definierte
Detail wichtig nehme oder als eine eher unwichtige Rand-Information auf dem Wege
betrachte. (Und mit der kontinuierlichen Übung wird durch diesen Prozess der Schöpfungsakt
natürlich an sich hochwertiger.)


Doch warum ist es eigentlich so schwer zu definieren, sich zu entscheiden? Warum drücken
wir uns um Definitionen, obwohl es quasi keine Rolle spielt, ob es sich in der Umgebung
unserer Szene um eine Bäckerei oder ein Bestattungsunternehmen handelt? Weil wir etwas
über uns selbst offenbaren, weil wir in unserer eigenen, einzigartigen Art offensichtlich sind
und damit anderen einen Blick in unseren Geist erlauben. Und damit machen wir uns immer
verletzlich. Doch nur so lässt sich eine Welt erschaffen und unser eigener kreativer Prozess in
Gang setzen.

Nadine Antler
(Sept 2022)

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