Oder braucht man als SpielerIn mit Ausdruck eine schwierige Kindheit?
Seit ich mit der Schauspielerei zu tun habe, taucht folgende Frage immer wieder auf: Was macht einen Menschen interessant auf der Bühne? Gibt es so etwas wie Talent? Ist die beste Ausbildung zur Schauspielerei wirklich „eine beschissene Kindheit“, wie mein Lehrer in New York sagte? Beispiele für diese Theorie gibt es genügend: Klaus Kinski ist sicherlich das beste, aber nicht das einzige Beispiel für einen Schauspieler mit erheblicher Strahlkraft – und einer unausgegorenen Persönlichkeit. Oder Heath Ledger und Christian Bale. Oft scheint der Preis für spielerische Tiefe, auch tiefe Probleme im Privatleben zu sein. Und ja: es gibt diesen Zusammenhang, der weniger mit Talent, als einer inneren Reibung zu tun hat, der das Entfachen des Feuers, welches so wichtig für interessantes Leben auf der Bühne ist, leichter macht.
Nach Meinung von Psychologen wie dem in den 70er Jahren verstorbenen Dr. Eric Berne aus den USA, müssen wir Menschen als ein Energiesystem verstehen, das weitgehend damit beschäftigt ist, innere Balance zu finden. In uns herrscht ständige Spannung, die abgeleitet werden muss. Vergleichbar mit dem Motor eines Autos, das beim Start stark ruckelt, weil der Motor Fehlzündungen produziert, sorgt auch fehlendes inneres Gleichgewicht für Unwucht. Denn der Mensch, genau wie alles andere in der Natur, strebt nach ebendiesem Ausgleich, ähnlich einem Fluss, der überläuft seinen Wasserpegel ausgleicht, suchen sich auch die menschlichen Energien ihren Weg. Wie sehr der Mensch mit sich und seiner Umwelt im Reinen, also im Gleichgewicht ist, hängt allerdings stark von seinen Erfahrungen ab, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hat, und die sein Erleben der Wirklichkeit prägen. Wir sind nur ein Produkt unserer Biografie, haben uns einen Leitfaden erschaffen, der uns unseren individuellen Umgang mit äußeren Stimuli ermöglicht.
Ein gutes Beispiel, um zu verdeutlichen, worum es geht, ist Jenga, das asiatische Spiel, in dem man Holzklötzchen so stapeln muss, dass ein möglichst hoher Turm entsteht. Je genauer wir die Klötze aufeinander stapeln, desto stabiler und fester ist das Fundament. Je weniger genau wir arbeiten, desto wackeliger ist der Turm, und umso eher wird er in sich zusammenfallen. Stellen wir uns unser Leben und die Kompetenzen, die wir gesammelt haben, um Eindrücken von außen zu begegnen, als einen solchen Turm vor. Ein stabiles Fundament ist persönlich erstrebenswert, um möglichst ausgeglichen durch unser Leben zu kommen. Aber es bewegt sich auch nicht, es läuft nicht in Gefahr zu kippen und wir müssen nicht wirklich konzentriert arbeiten, um neue Klötze auf den Turm zu legen. Mit anderen Worten: Es ist langweilig. Genauso ist es mit dem System Mensch. Sind wir auf dem Weg der Erwachsenwerdens ins Stolpern gekommen und konnten in uns nicht alle Klötze fest und sicher aufeinander stapeln, sodass ein solides System entsteht, sind unsere Kompetenzen mit Widerständen umzugehen, eventuell weniger ausgeprägt als bei anderen. Geraten wir nun in einen Widerspruch oder stellt sich uns ein Problem, so wird bei solchen Menschen ein größerer innerer Prozess in Gang gesetzt. Der Motor fängt an zu ruckeln und stottern, wir wissen nicht ob er startet oder nicht, wir sind gespannt was passiert.
Der Mensch und sein emotionales Instrument, eingesetzt um der Figur die größtmögliche dramatische Kraft zu verleihen, ist der Kern des Schauspiels. Egal in welcher Ausformung. Dramatische Unterstützung ist eben nur das: Ein Gerüst, das per se Zuschauern die Möglichkeit gibt, sich auf das Dargebotene einzulassen. Gefüllt werden muss die Figur, das Stück, aber durch die Emotion, die es Figuren und somit Spielern erst ermöglicht, die Hürden und Hindernisse des Dramas zu überwinden. „So brillant ein Handlungsgerüst auch sein mag, es wird wenig Wirkung auf die Zuschauer haben, wenn diese sich nicht für die Charaktere interessieren.“ Schrieb Martin Esslin in seinem Buch „Was ist ein Drama?“ Aus dem Jahr 1976. Das erinnert mich an zwei Spielende, in einer Eheszene, deren Anziehungskraft zu wünschen übrig ließ. Ich sagte zu ihnen, dass sie mich an ein Paar nach erfolgreicher Paartherapie erinnerten. Nun möchte ich die Szene sehen, bevor sie sich entschließen, diese Therapie zu machen. Das Ergebnis könnt ihr nicht sehen, aber seid versichert das es interessanter war zwei Menschen zuzusehen die kämpfen, selbst wenn dieser Kampf rational sinnlos erscheint Sind die Klötze zu stabil, sind zu sehr im Reinen mit uns, haben wir zu viele Themen bearbeitet, fällt es uns umso schwerer die innere Unruhe, das Verlangen nach Befriedigung, egal welcher Art, darzustellen. Die amerikanische Schauspiel-Lehrerin Ivana Chubbuck sagt diesbezüglich eben nicht nur, dass die Spieler sich selbst kennen müssen, profund und tief, um die Prämissen so zu schärfen, dass die Darstellung der Bühne gerecht wird. Sie sagt auch, dass man in der Vorbereitung auf die Rolle eben nur mit „unfinished business“ arbeiten kann. „Finished Business“ ist erledigt, man muss nicht mehr kämpfen, es ist egal, ob das Ziel erreicht wird oder nicht.
Also ist die Antwort ja. Es gibt diese Wesen, eine unerklärliche Aura ausstrahlend, manchmal nicht richtig „tickend“, mit denen wir zwar kein vernünftiges Gespräch führen können (siehe Kinski), denen wir uns auf der Bühne oder vor dem Bildschirm aber nur schwer entziehen können. Manchmal müssen sie einen hohen Preis zahlen, der aber angesichts des Lebens, das sie für sich auf diesem Planeten auserkoren haben, bereit sind zu zahlen. All dies könnte man auch mit der schönen Anekdote des US-Schauspielers Jerry Lewis erzählen. Er war ein Mensch, der im Privaten nicht ganz einfach war, aber einer genialsten Komiker seiner Zeit. Sieht man ihn in Interviews, verblüfft seine private Ernsthaftigkeit, die in starkem Kontrast zur spielerischen Leichtigkeit steht. Eines Tages ging Lewis zu einem Psychologen, den er nach der ersten Sitzung fragte, ob er glaube, dass er Therapie brauche. „Ja“, sagte der Psychologe. „Bin ich dann noch lustig?“ erwiderte Lewis. „Das kann ich Ihnen nicht versprechen“ antwortete der Therapeut. „Na gut, dann lassen wir’s“ sagte Lewis, stand auf und ging.
Hendrik Martz, Mai 2023
Sprechstunden für die Seele: Psychiatrie und Psychoanalyse verständlich gemacht. Eric Berne, 1970
The Power of the Actor – The Chubbuck Technique. Gotham Books, 2004,