Als Improspielerin begegnet mir immer wieder das Misstrauen, dass das, was dir da spielen auf der Bühne gar nicht wirklich improvisert ist. Der Vorwurf ist, dass es Absprachen gibt, Versatzstücke, Dinge, die wir wieder und wieder benutzen. Und bisher hab ich das immer entrüstet abgelehnt. Aber es gibt Ausnahmen, wie zum Beispiel diese.
Eine Publikumsvorgabe führt zu einer Dating-Szene in einem Café. Eine Person sitzt an einem Tisch im Cafe. Eine zweite Person kommt hinzu und begrüßt die erste mit einem Online-Dating-Pseudonym „Rose 28?“ Die Sitzende antwortet. „Starker Hengst 86“? Kurz danach fällt der nächste ikonische Satz: „Du siehst ganz anders aus als auf dem Foto.“ Sounds familiar?
Oder:
Als Spielort wird ein Bauernhof gewünscht. Es gibt nun zwei „geskriptete“ Moves: Entweder wird eine Kuh von Hand gemolken oder es wird mit einer Gabel Heu von A nach B verschoben. Klassischerweise heißt irgendjemand Resi.
Oder:
Eine Beerdigung ist als Setting gegeben. Eine kleine Anzahl von Menschen wird nun betroffen auf der Bühne stehen, bis kurz danach eine weitere Improspielerin aufspringt, um sich vor die Stehenden mit verkreuzten Armen auf den Boden zu legen. Kurz darauf beginnt ein Pfarrer mit: „Wir verabschieden uns heute von…“ und die anderen Menschen fangen an zu schluchzen.
Oder:
Die Szene soll laut Publikumswunsch in einer Bäckerei spielen. Sofort sehen wir zwei Spieler, die eifrig gemeinsam Teig kneten und Brötchen formen.
Was haben all diese Beispiele gemeinsam?
Sie dienen uns als Symbole. So wie wir beim Scharade-Spielen einen Film über eine „Kurbel-Kamera“ codieren, so versuchen wir in diesen klassischen Impro-Settings auch schnell allen klar zu machen, dass wir die Vorgabe des Publikums bedienen. Das Problem ist meines Erachtens, dass es diese Situationen so (fast) nicht (mehr) gibt genauso wenig, wie heute bei einem Filmdreh an der Kamera noch eine Kurbel bedient wird. Das heißt, wir sind in der Welt der symbolischen Zeichen statt in der Welt der realistischen Handlungen und Settings. Ist es uns trotzdem möglich, die Szene zu spielen? Sicher. Die Gefahr ist nur, dass wir die Welt des Symbolismus weiterhin bedienen anstatt realistische Welten und Beziehungen zu erschaffen.
Das Beispiel Bauernhof verdeutlicht das Problem. Wenn meine Mitspielerin eine Kuh von Hand melkt und ich das Angebot als Realität statt als Symbolik verstehe, müsste ich mich fragen, ob wir vielleicht in einem anderen Zeitalter oder in einem anderen Erdteil sind? Oder ob diese Frau auf ihrem Schemel evtl. eine Art „Ferien auf dem Bauernhof“- Schauvorführung gibt? Ob sie als Selbstversorgerin aus der Stadt auf’s Land gezogen ist, um einen kulturellen Gegenentwurf zu leben? Ich müsste mich also fragen: Was sind die Umstände, in denen von Hand gemolken wird, da es im Jahr 2024 definitiv die Ausnahme in deutschen Milchbetrieben ist? Und damit wäre ich in einer spezifischen Situation, die ich tatsächlich spielen kann und die mich wirklich inspiriert.
In welcher Bäckerei wird noch Teig von Hand geknetet? Wie viele Beerdigungen finden vor einem offenen Sarg statt? Welche Dates beginnen wirklich mit dem Zitieren von Tinder-Namen?
Wenn wir uns trauen, die Welt des Symbolismus zu verlassen, wird es erstaunlich einfach zu improvisieren – und in der erschaffenen Welt zu handeln. Denn die Welt nicht nur spezifischer – und damit automatisch interessanter. Wir sind außerdem auch meist – quasi per Abkürzung – bei besserem Schauspiel, denn „The reality of doing is the foundation of acting.“ (Sanford Meisner) Die Szene beim Kaffeetrinken nach der Beerdigung oder beim Versenken der Urne ist spezifisch, real und aus der Welt, die wir (vermutlich) kennen. Wir wissen, das es gesellschaftliche Erwartungen gibt. Dass es etwas bedeutet, wenn jemand auf der Beerdigung bereits vom Erbe spricht und alle schweigend am Kuchen kauen. Oder wenn jemand aus Versehen in das Urnengrab tritt. Echte Situationen sorgen für eine andere Art von Humor und Komik, weil plötzlich unsere Regeln der Realität und der spezifischen Umstände wieder gelten. Der Humor des Tindernamens „Starker Hengst 86“ ist ein überspitzter und überspielter Witz. Danach wird es schwierig mit der Szene, weil wir behaupten müssen, dass diese beiden Figuren sich wirklich etwas zu sagen haben. Der Humor in der realistischen Welt ist dagegen ein Wiederkennen. Wir nehmen unser Publikum mit in ihre eigene Welt und erlauben ihnen, die Komik (und Tragik) darin zu erleben. Ein lohnenswertes Unterfangen.
Nadine Antler, Februar 2024